Baustein

Die Nacht als die Synagogen brannten


Texte und Materialien zum 9. November 1938

als Bausteine ausgearbeitet

Hrsg: LpB, 1998

 
Inhalt

 
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Enzyclopädisches Stichwort: "Reichskristallnacht"

 


Kurt Pätzold: "Reichskristallnacht", aus: Enzyklopädie des Nationalsozialismus, hrsg. von Wolfgang Benz, Hermann Graml und Hermann Weiß, 2. Aufl. München 1998 (1997), S. 679-680.

Die Bezeichnung Reichskristallnacht, deren Herkunft nicht definitiv geklärt ist, bildete und erhielt sich für den reichsweiten Pogrom gegen die Juden im Deutschen Reich, der am 9./10.11.1938 stattfand. Er wurde am Abend des alljährlichen Treffens der NSDAP-Führerschaft nach Zustimmung Hitlers von Minister Goebbels durch eine Hetzrede ausgelöst. Anschließend gaben die SA-Führer von München aus telefonisch entsprechende Befehle an ihre Stäbe und Mannschaften durch. Die offizielle Propaganda suchte (vergeblich) den Pogrom als spontane Antwort der Bevölkerung auf den Tod des deutschen Diplomaten Ernst vom Rath auszugeben. Der Legationssekretär an der dt. Botschaft in Paris war von einem gegen die Verfolgung der Juden und seiner aus Deutschland vertriebenen Verwandten protestierenden 17jährigen Juden namens Herschel Grünspan niedergeschossen worden.

In einem barbarischen Terrorakt setzten SA- und NSDAP-Mitglieder die Synagogen in Brand, deren Trümmer später z.T. gesprengt wurden. Sie zerstörten etwa 7000 Geschäfte jüdischer Einzelhändler und verwüsteten Wohnungen der Juden. Sie töteten nach offiziellen Angaben insgesamt 91 Personen. Die Zahl derer, die infolge von Leid und Schrecken umkamen, ist nicht bekannt. An den Aktionen beteiligten sich auch Angehörige der HJ und weiterer NS-Organisationen. Der Mob nutzte die Chance zur Plünderung. SS und Gestapo organisierten die Verschleppung einer nicht exakt festgestellten Zahl jüdischer Männer und Jugendlicher (etwa 26.000) in die KZ Buchenwald, Dachau und Sachsenhausen. Viele von ihnen kamen dort infolge von körperlichen und psychischen Schikanen, von Medikamentenentzug u.a. um. Anderen wurde der Verzicht auf Eigentum abgezwungen. Die Masse der Inhaftierten kam erst nach Auswanderungserklärungen frei.

Die Reichskristallnacht bezeichnet den Übergang zur forcierten Vertreibung der Juden ins Ausland und den Beginn der mit Enteignung identischen abschließenden Phase der Arisierung. Deutschland sollte »judenfrei« werden. Die Koordinierung aller Maßnahmen lag in den Händen von Göring und erfolgte nach einer Besprechung am 12.11.1938 im Gebäude des Reichsluftfahrtministeriums in Berlin unter Beteiligung von Goebbels, Heydrich sowie einigen Ministern und Vertretern der Wirtschaft (Versicherungen). Es ergingen Verordnungen und Erlasse über die »Sühneleistung« der Juden in Höhe von 1 Mrd. RM, über die Ausschaltung der Juden aus dem deutschen Wirtschaftsleben, die Schließung aller jüdischen Geschäfts- und Handwerksbetriebe, das Verbot des Besuchs von Theatern, Konzerten und Kinos, den Ausschluß der jüdischen Kinder von öffentlichen Schulen und der jüdischen Studenten von Hochschulen, die Einschränkung der öffentlichen Fürsorge, des Wohnrechts und der Bewegungsfreiheit, den Einzug der Führerscheine, den Zwangsverkauf jüdischen Eigentums an Grundstücken, Gebäuden, Geschäften und Produktionsmitteln sowie die Beschränkung der Verfügungsrechte über Wertpapiere, Kunst- und weitere Wertgegenstände, Berufsverbote für jüdische Hebammen, Zahn- und Tierärzte u.a. Heilberufe (sämtl. zwischen 12.11.1938 und 17.1.1939).

Schließlich erteilte Göring Heydrich den Auftrag, die »Judenfrage« durch »Auswanderung oder Evakuierung« zu lösen (24.1.1939). Die Mehrheit der deutschen Bevölkerung verhielt sich gegenüber den Aktionen der Reichskristallnacht distanziert. Der Pogrom erzeugte im Ausland weltweit Proteste von Organisationen und Einzelpersonen, die wirkungslos blieben, trug aber zum Ende der britischen Appeasement-Politik bei.

 


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